978-3-658-10526-6

Mediale Diskurse, Kampagnen und Öffentlichkeiten

Das Zentrum für Sozialweltforschung und Methodenentwicklung (ZSM) der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg führt vom 12. bis 13. Juli 2013 eine von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte NachwuchsforscherInnentagung mit dem Titel: Mediale Diskurse, Kampagnen und Öffentlichkeiten durch, die gleichzeitig das Theorieforum 2013 umfasst.


Abschlussbericht

Revolution vom Schreibtisch?

So einfach wie heute war es wohl noch nie sich an öffentlichen Entscheidungen zu beteiligen, sei es die Unterzeichnung einer Online-Petition oder das Initiieren und Unterstützen von Demonstrationen (ACTA-Proteste) oder anderer, nicht politisch-motivierter Kampagnen.

Mithilfe der Anwendungen des World Wide Web können Artikulationen zu relevanten Themen nicht nur in kürzester Zeit produziert und zeitnah über den gesamten Globus verstreut werden. Ebenso können Inhalte von verschiedenen Empfängern gleichzeitig kollaborativ bearbeitet und wiederum veröffentlicht werden. Diese aus dem Mitmach-Netz (Stichwort Web 2.0) hervorgegangen Applikationen ermöglichen eine neue Form der Partizipation an gesellschaftlichen Prozessen. Die soziotechnische Struktur neuer Medien löst die unidirektionale Wirkungsrichtung von Massenmedien auf, so dass auch von einem klassischen Produzent-Konsument-Verhältnis keine Rede mehr sein kann. Die Auflösung dieses Verhältnisses spiegelt sich in der Verwendung von Begriffen wie dem des Prosumenten oder des Produsers wider. Davon ausgehend, dass Artikulation von Medialität nicht zu trennen ist, werden auch alte Fragen der Bildung (wie soziale Teilhabe, Identitätsentwicklung, Orientierung) in neuer Weise gestellt.

Um diese Phänomene aus humanwissenschaftlicher Sicht zu betrachten, fand am 12. und 13. Juli 2013 an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg die 5. NachwuchsforscherInnentagung zusammen mit dem 6. Magdeburger Theorieforum statt. Unter der Thematik „Mediale Diskurse, Kampagnen und Öffentlichkeiten“ wurden die zwei Formate erstmals zu einer Veranstaltung verbunden und als Zusammenarbeit des Zentrums für Sozialweltforschung und Methodenentwicklung (ZSM) sowie der Lehrstühle für Allgemeine Pädagogik (LAP) und Medien- und Erwachsenenbildung (MEB) an der Universität Magdeburg durchgeführt. Als Vortragende konnten WissenschaftlerInnen aus dem gesamten Bundesgebiet und verschiedener Disziplinen gewonnen werden.

Die wissenschaftliche Leitung übernahmen wie in den letzten Jahren Prof. Dr. Winfried Marotzki (Allgemeine Pädagogik) und Prof. Dr. Johannes Fromme (Medien- und Erwachsenenbildung) vom Institut für Erziehungswissenschaft, die Organisation stellten Kathrin Hirschmann (ZSM), Jens Holze (LAP) und Florian Kiefer (MEB) sicher.

Durch den Zusammenschluss aus NachwuchsforscherInnentagung und Theorieforum ergaben sich inhaltlich wie auch formal wertvolle Synergieeffekte: Einerseits wurde die transdisziplinäre Bearbeitung der Veranstaltungsthematik durch die Teilnehmenden aus Kommunikations-, Sozial-, Kultur- und schließlich Bildungswissenschaft auf fruchtbare Weise ausgeschöpft. Andererseits konnte auch empirisches Material zum Gegenstand der Diskussionen gemacht und so die Tagung durch Workshop-Fragmente erweitert werden. Die Veranstaltung war so aufgebaut, dass nach einer eröffnenden Keynote jeweils drei Themen pro Tag vorgestellt und diskutiert wurden. In der abschließenden Diskussionsrunde wurde ein Feedback der Teilnehmenden eingeholt und ein mögliches Thema („Netzwerktheorien“) für das nächste Theorieforum abgestimmt.

Die Vorträge im Einzelnen

Für die Eröffnung der Veranstaltung konnte Dr. Jan-Hinrik Schmidt gewonnen werden. Er ist wissenschaftlicher Referent für digitale interaktive Medien und politische Kommunikation am HansBredow-Institut für Medienforschung und referierte zu dem Thema „Der neue Strukturwandel der Öffentlichkeit“. Darin entfaltete er die These, dass die digitalen vernetzten Medien einen neuen grundlegenden Strukturwandel von Öffentlichkeit mit sich bringen, den es erst allmählich zu verstehen und zu gestalten gilt. Die mit dem Wandel verbundenen neuen Anforderungen fasste er in drei zentralen Aspekten zusammen: Demnach könne man (1) die Konvergenz von Konversation und Pub- 2 likation in den sozialen Medien beobachten, die (2) zu einer Verschiebung von Machtverhältnissen und Teilhabechancen führe. Daraus sei zu folgern, dass (3) die Notwendigkeit bestehe, unser Verständnis von informationeller Selbstbestimmung zu erweitern und zu aktualisieren. Damit wurde ein erster Einblick in die Vielseitigkeit aber auch Relevanz des Themenfeldes deutlich, durch den die folgenden Beiträge einführend gerahmt werden konnten.

Judith Beyrle befasste sich im Anschluss mit „Neuen und alten Öffentlichkeiten – Ein Vergleich der Konstitution von Öffentlichkeit durch klassische Nachrichtenmedien und internetbasierte Medien am Beispiel Wikileaks“. Ausgehend von dem Medienecho, welches die durch B. Manning zugespielten und durch Wikileaks veröffentlichten 500.000 Botschaftsdepeschen ausgelöst haben, unternahm die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Allgemeine Erziehungswissenschaften der Universität Trier den Versuch, nach den spezifischen Leistungen zu fragen, die alte und neue Medien im Kontext von Öffentlichkeit erbringen. Dabei zeigen sich beispielsweise systematische Unterschiede in den Optionen, Relevanz zu markieren, Informationen zu selektieren und ein Publikum zu adressieren. Ihre These sei durchaus postmodern gedacht, da soziale Gegenwart und soziale Wirklichkeit im Internet zunehmend personalisiert, situiert und netzwerkorientiert hergestellt werde. Dadurch drohe die selbstverständliche Unterstellung einer gemeinsamen Gegenwart und Wirklichkeit brüchig zu werden. Der Fokus liege auf der Differenzierung von Selektion und Formierung, da neue Informationstechniken und die Flut an Informationen ein solches Vorgehen legitimieren, wenn nicht sogar essentiell werden lassen. Zum Gegenstand ihrer Analyse wird die Nachricht. Der empirische Zugang wird über eine Methodentriangulation realisiert, worin eine qualitative Materialanalyse mit einer begleitenden Aufarbeitung medienwissenschaftlicher und -soziologischer Diskurse verbunden werden. Dabei soll der Öffentlichkeitsbegriff im Hinblick auf spezifische Leistungen klassischer Nachrichtenmedien (Selektion, Aktualität, Unterstellung von Bekanntheit) spezifiziert und differenziert werden können.

Basierend auf den theoretischen Arbeiten von Hannah Arendt und Jürgen Habermas entfaltete Dan Verständig seine Überlegungen über „Das Internet und die Transformation des Öffentlichen“ und stellte die Frage, inwieweit man angesichts der Dynamisierung und Kommerzialisierung des Internets noch von klaren Grenzen zwischen privaten und öffentlichen Räumen sprechen könne. Als Beispiel seiner Überlegungen diente ihm die jüngst von der Deutschen Telekom vorgestellte und viel diskutierte Ankündigung der Aufhebung unlimitierter Flatrates. Er untersuchte diese primär unter dem Aspekt der Netzneutralität diskutierten Pläne mit Blick auf dessen bildungstheoretische Folgen. Einerseits fragte der Referent, wie sich dieser Diskurs konkret über den Mikroblogging-Dienst Twitter organisiere. Wenn andererseits Bildung in und durch Medien induziert werde, stelle sich zudem die Frage, in welcher Weise durch die Drosselung der Zugangsgeschwindigkeiten eine Beteiligung an gesellschaftlichen Prozessen und somit auch der neue Strukturwandel der Öffentlichkeit beeinflusst werde.

Bianca Meise fokussierte in ihrem Beitrag das Feld der sozialen Netzwerke. Ihre Ausgangsdiagnose ist, dass zwar ein gesteigertes akademischen Interesse an Social Network Sites erkennbar sei, dass die Sozialität der Netzwerke aber bisher nur unzureichend erforscht worden sei. Vor dem Hintergrund aufschlussreicher Erkenntnisse zu den Bedeutungskonstruktionen von Nutzern, widmet sie ihre Aufmerksamkeit den vielfältigen Einflüssen der sozialen Bezugsgruppe und der speziellen Relevanz der medialen Umgebung, um letztlich die Sozialität in sozialen Netzwerken zu rekonstruieren. Unter der Überschrift „Zwischen Blick und Schrift – Zur Konstruktion sozialer Räume in Social Network Sites“ stellte die Referentin wesentliche Ergebnisse aus ihrer Dissertationsschrift vor, die auf Basis von qualitativen Interviews entstanden ist. Als Erklärungsmodelle nutzt Frau Meise dabei recht unterschiedliche theoretische Konzepte und Ansätze.

Valentin Belentschikow und Nicholas Müller führten mit dem ersten Beitrag des zweiten Tages die Auseinandersetzung mit sozialen Netzwerken fort und referierten vor dem Hintergrund ihres aktuellen Forschungsprojektes zum Thema „Methodische Triangulation zur Identifizierung von Handlungs- und Meinungsbildungsprozessen im Netz – Peer Groups und Freundschaften auf Facebook“. Auch sie gehen von einer Dynamisierung des Netzes aus, infolge derer sich soziokulturelle Praktiken veränderten und zugleich neue Einblicke in alltagsweltliche Kommunikationsprozesse unserer Gesellschaft eröffneten. Nach Schmidt seien zwei wesentliche Entwicklungen zu beobachten: die Er- 3 weiterung professionell hergestellter sowie die Herausbildung persönlicher Öffentlichkeiten. Insbesondere Letztere verfügten über immense Bedeutung für die Bildung öffentlicher Meinungen, sei es durch Online-Multiplikatoren oder neue Formen von Anschlusskommunikation. In der Forschung seien, so die Referenten, qualitative Methoden bisher unterrepräsentiert geblieben. In ihrem Vortrag thematisierten die Forscher ein von Ihnen durchgeführtes qualitatives Experiment, bei dem 58 Mitgliedern einer themenorientierten Community auf Facebook Freundschaftsanfragen von einem fiktiven Profil gesendet wurden. In einer qualitativen Datenerhebung habe man mit den Personen vier Gruppendiskussionen zu verschiedenen thematischen Schwerpunkten, wie Freundschaftsbeziehungen on- und offline, sozialen Beziehungen, Identitätsmanagement sowie Glaubwürdigkeit im virtuellen Raum, durchgeführt. Zudem erfolgte für die methodische Triangulation eine quantitative Datenerhebung mittels Fragebogen. Folglich wurden im Vortrag insbesondere die Implikationen einer solchen Methodentriangulation für die Datenerhebung thematisiert.

Mit dem Beitrag von Patrick Bettinger wurde ebenfalls ein Entwurf zu einem methodologischen Konzept vorgestellt. Darin beabsichtigte er sowohl Anknüpfungspunkte (und potenzielle Inkompatibilitäten) zwischen den handlungstheoretisch gerahmten, durch Medien induzierten Bildungsprozessen zu diskutieren als auch Effekte diskursiver Medienpraxis auf diese Prozesse in theoretischer und besonders methodologischer Hinsicht zu erörtern. Um in bzw. durch Medien induzierte Transformationen von Mustern des Selbst- und Weltverhältnisses rekonstruieren zu können, müssten in einem zweiten Schritt die in diesen Prozessen tangierten diskursive Bezüge zunächst identifiziert und daraufhin im Rahmen eines diskursanalytischen Vorgehens erschlossen werden. Damit versuchte der Vortrag eine Brücke zwischen diskursiven und biographischen Verschränkungen in Medienbildungsprozessen zu schließen. Schwerpunktmäßig befasste sich Bettinger mit den Möglichkeiten der Vereinbarkeit von subjektiv gelagerten und handlungstheoretisch gefassten Medien-Bildungsprozessen und stellte diskursanalytische Zugänge im Sinne einer ,praxeologischen Diskursanalyse‘ zur Diskussion.

Schließlich wurde im letzten Beitrag dieser Veranstaltung noch einmal ein Theorieproblem zur Diskussion gestellt. Christopher Könitz (M.A.), der zurzeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am ELearning-Zentrum der Hochschule Wismar arbeitet, befasste sich darin mit dem Verhältnis von Bildungspotentialen und Dispositiven. In seinem Vortrag ging er davon aus, dass medialen Diskurse bzw. Artikulationen Bildungspotentiale beinhalten können. Mit der theoretischen Brille einer Strukturalen Medienbildung betrachtete er das Bildungspotenzial von medialen Anordnungen, die einen bestimmten Zweck verfolgen – den Dispositiven. Um die Frage nach dem Verhältnis zwischen Bildungspotentialen und Dispositiven zu beantworten, wurden folgende Aspekte im Vortrag herausgearbeitet und verglichen:

  • Was sind grundlegende Eigenschaften von Bildungspotentialen und Dispositiven?
  • Wie „zeigen“ sich diese in medialen Strukturen bzw. wie kann man sie beschreibbar machen?
  • Wo gibt es Überschneidungen, Ähnlichkeiten und Differenzen?

Durch diesen Vergleich machte Könitz deutlich, dass Bildungspotentiale und Dispositive auf der Ebene der Medialität in einem dialektischen Verhältnis zueinander stehen. Insofern führe der Einbezug von Dispositiven in bildungstheoretische Medienanalysen im Sinne einer strukturalen Medienbildung zu einem tieferen und kritischeren Verständnis von Medialität und Bildung. Ausblick Sowohl der Einblick in die jeweils disziplinfremden Sichtweisen als auch die Möglichkeit, empirisches Material zu diskutieren, stießen im Plenum durchweg auf positive Reaktionen und wurden in der abschließenden Abschlussrunde noch einmal ausdrücklich hervorgehoben. Auch das kombinierte Format der Veranstaltung wurde positiv bewertet und könnte somit in Zukunft erneut aufgegriffen werden. Das nächste Theorieforum könnte zum Thema „Netzwerktheorien“ durchgeführt werden.


Einige Aufzeichnungen zur Veranstaltung


Der neue Strukturwandel der Öffentlichkeit von Dr. Jan-Hinrik Schmidt


Mediale Diskurse und biographische Transformationen von Patrick Bettinger